Ein Kinofilm über die angebliche Rekrutierung von Hindu-Frauen für die Terrormiliz IS ist in Indien ein Kassenschlager. Er polarisiert, freut aber die hindu-nationalistische Regierung.
Natalie Mayroth, Mumbai
4 min
Eine junge Inderin sitzt weinend beim Verhör. Sie schluchzt und beginnt zu erzählen, wie sie zum Islam fand, den späteren Vater ihres Kindes kennenlernte und sich plötzlich in einem Lager für Angehörige von Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Afghanistan wiederfand. Alles begann in der Krankenpflegeschule in Südindien, als ihre muslimische Zimmergenossin ihr neue Freunde vorstellte und sie sich in einen von ihnen verliebte.
Ihre Geschichte sei jene, wie aus Krankenschwestern Selbstmordattentäterinnen werden, sagt die Frau den Sicherheitsbeamten. «Warum sind die Menschen nicht bereit, uns zuzuhören, unsere Geschichten zu hören?», fragt Shalini Unnikrishnan, die junge Frau, verzweifelt und warnt davor, dass ihre Heimat bald vor dem Abgrund stehe, wenn niemand diese Rekrutierung stoppe.
Das Polizeiverhör ist eine Szene in dem neuen indischen Film «The Kerala Story», der von einer angeblichen massenhaften Bekehrung junger hinduistischer Frauen zum Islam und ihrer Rekrutierung durch Terroristen im südindischen Gliedstaat Kerala handelt. Der Film, der eine hitzige Debatte über Indiens Muslime entfacht hat, schürt in 138Minuten Unbehagen gegenüber der religiösen Minderheit.
Beifall vom Hardliner Modi
An den Kinokassen ist das ein Erfolg: Seit Anfang Mai hat der Streifen bereits mehrere Millionen Dollar eingespielt. In der Metropole Mumbai etwa luden Politiker der regierenden hindu-nationalistischen Volkspartei (BJP) zu kostenlosen Vorführungen ein. Premierminister Narendra Modi, der schon lange Stimmung gegen die Muslime macht und Indien als Land der Hindus betrachtet, behauptete, der Film decke eine Verschwörung gegen Indien auf.
Führende Vertreter der muslimischen Minderheit Indiens und Mitglieder der Oppositionsregierungen sehen in dem Film hingegen eine Diffamierung Keralas, die die Harmonie zwischen den Religionsgemeinschaften störe. Der Film werde von einer der BJP nahestehenden hindu-nationalistischen Organisation gefördert, um die Gesellschaft zu spalten und zu polarisieren, sagte Pinarayi Vijayan, der Regierungschef des kommunistisch regierten Gliedstaates.
Zwar blieben in Kerala selbst Zusammenstösse zwischen Hindus und Muslimen wegen des Filmes aus, doch im Rest des Landes kam es zu Protesten. Im westindischen Maharashtra artete der Streit über den Film aus. Dabei kam ein Mann ums Leben, und Hunderte wurden von der Polizei festgenommen.
«The Kerala Story» greift den Verschwörungsmythos des «Love Jihad» auf. Demnach verführen muslimische Männer gezielt hinduistische Frauen, um die muslimische Minderheit zu stärken und die hinduistische Mehrheit zu schwächen. Das Vorurteil ist verbreitet und hält sich hartnäckig. Das hängt unter anderem damit zusammen, dass in Indien von Frauen erwartet wird, den Glauben ihres Mannes anzunehmen, falls er einer anderen Religion angehört.
«The Kerala Story» ist kein Dokumentarfilm, er erzählt eine fiktive Geschichte. Allerdings behaupten die Macher im Abspann, dass sie reale Fälle aus Kerala in die Schilderung eingewoben hätten, wie Shalini Unnikrishnan und ihre Freundinnen immer tiefer in den Islam gelockt werden: Man gaukelt ihnen vor, nur wer einen Hijab trage, komme nicht in die Hölle und bleibe von Belästigungen durch Männer verschont.
Schwanger und von ihrer Familie isoliert, hat die Frau nur noch die Wahl, den Vater ihres Kindes zu heiraten. Und nach den Flitterwochen in Sri Lanka geht es mit den IS-Terroristen nach Afghanistan. So oder ähnlich sollen laut dem Regisseur Sudipto Sen in den vergangenen Jahren 32000 Mädchen in Kerala durch gezielte Manipulation und Drogen zum Islam bekehrt worden sein.
Die Zahl korrigierte Sen später zwar nach unten, aber an seiner Behauptung hält er fest. «Überall auf der Welt werden Mädchen in Länder wie Syrien, den Irak, Jemen und die Türkei verschleppt. Indien ist ein Beispiel dafür», sagte er indischen Medien, nachdem er heftig kritisiert worden war und Rufe nach einem Verbot des Films laut geworden waren.
Er verstehe die Kritik nicht. Er erzähle lediglich die Geschichte von Mädchen, die Opfer von Menschenhandel und Terrorismus wurden. Politisch motiviert sei sein Film nicht. Um seine Behauptung zu untermauern, trat Sen in Mumbai mit Frauen auf, die angeblich vor dem «Love Jihad» gerettet wurden. Fälle von Rekrutierungen durch den IS seien zwar bekannt, sagen Kritiker, doch Sen verbreite in seinem Film Halbwahrheiten.
Hindu-Mütter besorgt
Wie polarisierend der Film ist, wird nach einem Kinobesuch klar. «Die Gewalt in dem Film hat mich verstört», sagt Pooja, die aus dem Grossraum Mumbai kommt und den Film mit ihrer Familie gesehen hat. Ihr Vater habe darauf bestanden, dass sie und ihre ältere Schwester mitkommen. «Ich halte es für unverantwortlich, so einen Film zu zeigen, der auf nicht genügend Fakten über die Rekrutierung von Frauen durch den IS beruht», meint die 25-jährige Grafikdesignerin.
Poojas Mutter hingegen ist froh, dass ihre Töchter den Film gesehen haben und so davor gewarnt sind, was passieren kann, wenn sich Mädchen mit muslimischen Männern einlassen. Viele Hindu-Mütter teilen diese Sorge.
Filmemacher Sen mag für seinen ersten grossen Film von Poojas Mutter und aus den Reihen der hindu-nationalistischen Regierungspartei BJP Anerkennung erhalten. Doch bisher konnte sein Propagandastreifen nicht an den Erfolg von «Pathaan» anknüpfen, den einzigen Film, der es seit der Corona-Pandemie geschafft hat, dass sich lange Schlangen vor den Kinos bildeten. Eine Hauptfigur des Actionfilms spielt Shah Rukh Khan, ein muslimischer Schauspieler, der seit Jahren mit einer Hindu verheiratet ist.
NZZ am Sonntag, International
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